Wie konnte es dazu kommen, dass die von der Werbeindustrie ausgewiesenen Reichweiten bzw. Kontakte derart massiv von der Wirklichkeit abweichen? Abgesehen von kommerziellen Interessen an hohen Reichweiten und mangelhaften Kontrollen, liegt die Antwort in Problemen der Modellierung.
Das selbsternannte Forschungsinstitut Swiss Poster Research Plus AG (SPR+) ↗ hat einen komplexen Algorithmus erstellt, um Reichweiten von Werbeflächen zu ermitteln. Die Komplexität führt nicht etwas zu präziseren Resultaten. Im Gegenteil. SPR+ benutzt die vordergründige Komplexität und Geheimhaltungsvereinbarungen, um jene abzukanzeln, die etwas genauer hinschauen:
Unser Mobilitätsmodell basiert auf einer Matrix mit rund 8 Billionen Feldern, ist hochgradig komplex und ist von hervorragenden Wissenschaftlern über Jahre entwickelt und weiterentwickelt worden. Zudem verhindern NDAs [Non-Disclosure Agreements], die wir unterzeichnet haben, die Weitergabe einiger unserer multiplen Datengrundlagen. Entschuldigen Sie bitte, aber ich finde es etwas anmassend, dass Sie meinen, sie könnten das mal eben «selbständig berechnen».
E-Mail von Felix H. Mende, Geschäftsleiter von SPR+, 04.09.2023
Die Arroganz liegt in der Annahme, ein Algorithmus sei derart gut, dass ein Abgleich mit der Wirklichkeit nicht mehr notwendig ist. Nur so ist zu erklären, dass eine Werbefläche über 400 000 Kontakte aufweisen soll, wenn die offiziellen Verkehrsdaten lediglich 40 000 nahelegen. Überprüfen, was falsch gelaufen ist, lässt sich nicht, denn Transparenz, Nachvollziehbarkeit und ähnliche Grundwerte solider Wissenschaft sind nicht Sache von SPR+, einer Tochtergesellschaft der Marktführerin APG|SGA:
Sie werden verstehen, dass SPR+ Ihnen nicht die wissenschaftlichen Grundlagen ihrer Arbeit offenlegen kann, weil diese dem Geschäftsgeheimnis unterstehen.
E-Mail von Felix H. Mende, Geschäftsleiter von SPR+, 04.09.2023
Probleme der Methode und Modellierung
Bei genauer Betrachtung zeigen sich potenzielle methodische Probleme sowie aktive Vertuschung von unliebsamen Fakten:
- Theoretische Grundlagen: 30 Jahre alt
- 8 Billionen Datenfelder: Ja, aber ohne Inhalt
- GPS-Erhebung mit 11 500 Testpersonen: 2007 ‒ und zwei Drittel haben die Studie abgebrochen
- Sichtbarkeitsgewichtung: Wird nicht erkennbar angewendet
- Beachtungsraumkonzept: Untauglich für Werbescreens
- AM4DOOH-Studie: Falsches Forschungsdesign für virtuelle Aufmerksamkeit
- Und am Ende einfach mit 5 multiplizieren. Oder 2. Oder 4.
In einem derart komplexen Algorithmus führt bereits ein einziger falsch konzipierter Faktor zu verzerrten Resultaten. Derart viele potenzielle Probleme ‒ gekoppelt mit fehlender Objektivität, ökonomischen Interessen und mangelhaften Kontrollen ‒ müssen zwangsläufig dazu führen, dass die Reichweiten zu hoch ausfallen.