Die Werbeindustrie verkauft die Aufmerksamkeit von Menschen. Um tausend Menschen mit Werbebildschirmen zu erreichen, verlangen die Plakatgesellschaften derzeit rund 17 Franken. Doch wie misst die Industrie diese Kontakte, und sind die Zahlen realistisch?

Out-of-Home Watch hat während eines Jahres an 13 Standorten für 21 Werbescreens Kontakte gezählt und mittels öffentlich verfügbarer Verkehrsdaten plausibilisiert. Vor Ort wurden Menschen gezählt, die in den vom selbsternannten Forschungsinstitut Swiss Poster Research Plus AG (SPR+) ↗ angewandten Messbereich fallen (über 15 Jahre alt, Blickkontakt zu Werbefläche möglich, mind. 1 Sekunde Blickkontakt u.ä.). Die Messungen wurden anhand von Verkehrsdaten (Uhrzeit/Wochentag) normalisiert, auf eine Woche hochgerechnet und verglichen mit den im Buchungsportal Splicky ↗ ausgewiesenen Bruttoreichweiten der Werbeflächen.

In jedem Fall wichen die vor Ort gemessenen Zahlen stark vom Ergebnis des Industrie-Algorithmus ab:

StandortScreensBetreibergemessene in % der
ausgewiesenen Reichweite
VBZ Kalkbreite (VBZ)2Goldbach Neo8%‒19%*
Stadelhoferstr. 421APG|SGA10%
VBZ Stauffacher (VBZ)3Goldbach Neo15‒24%**
Kalkbreitestr. 391APG|SGA10%
Standort 5
(öffentlicher Grund)
2Clear Channel
(Goldbach Neo)
40%
Standort 6 (VBZ)1Goldbach Neo5%
Standort 7 (VBZ) 1Goldbach Neo20%
Standort 8 (VBZ)1Goldbach Neo2‒7%***
Standort 9 (VBZ)1Goldbach Neo27%
Standort 10 (VBZ) 1Goldbach Neo18%
Standort 11 (SBB)4APG|SGA8%
Standort 12 (VBZ)1Goldbach Neo4%
Standort 13 (VBZ)2Goldbach Neo38%
Lesebeispiel: An Standort 6, auf VBZ-Grund, hat Goldbach Neo 5% der Kontakte (gemäss Zahlen von Splicky) geliefert, die aufgrund der Schätzungen und Messungen von Out-of-Home Watch realistisch wären.

* Drei verschiedene gemessene Reichweiten zwischen 15 und 24%.
** Zwischen zwei Messungen hat Goldbach Neo die Reichweite von 165 000 auf 250 000 erhöht. Inzwischen (Sommer 2024) wurde sie auf 119 000 reduziert.
*** Drei Messungen im ähnlichen Bereich, aber Goldbach Neo hat die ausgewiesene Reichweite zwischen zwei Messungen um 50% erhöht.

Potenziell Millionen von Franken zu viel verrechnet

Bei einem Marktwert von CHF 19, später CHF 17, für 1000 Kontakte, ergibt das eine Differenz zwischen den verkauften und den gelieferten Kontakten im Wert von über CHF 3 Mio. jährlich − und das nur bei diesen 21 Bildschirmen. 1000 Kontakte mehr bedeuten für die Plakatgesellschaft bis zu 1000 Franken mehr Einnahmen pro Jahr und Fläche.

Diese Stichproben sind keine zufälligen Treffer. Mit Ortskenntnis zeigt ein Blick auf die Reichweiten rasch, dass sehr viel mehr Werbescreens betroffen sind. Goldbach Neo betreibt am meisten Bildschirme, weshalb diese Firma am stärksten betroffen ist. APG|SGA ist auf dem Platz Zürich in geringerem Masse betroffen (ausser in den Bahnhöfen, wo sie eine Monopolstellung haben), aber auch kleine Marktteilnehmer wie City Lights präsentieren im Buchungsportal Splicky Fantasiezahlen.

Messmethode: Nahe genug an der Wirklichkeit

Die Messmethode von Out-of-Home Watch ist keine exakte (mehr dazu hier). Sie ist aber exakt genug, um festzustellen, dass die ausgewiesenen Reichweiten eklatant von der Wirklichkeit abweichen. Da nicht nur ein abstrakter Algorithmus, sondern Ortskenntnis, eigene Messungen vor Ort, sowie die Plausibilisierung durch öffentlich verfügbare Verkehrszahlen eingeflossen sind, sind die Ergebnisse präziser, als jene von SPR+, die vermutlich die meisten dieser Zahlen erhoben hat (die andere Firma, die gemäss Neo Advertising Zahlen geliefert hat, ist Senozon AG ↗).

Willkür an allen Ecken

Zu jedem Zeitpunkt und an jedem Standort behaupten die Plakatgesellschaften, die Messungen seien korrekt. Doch der Vergleich unterschiedlich beschaffener Standorte und verschiedener Zeitpunkte deutet eher darauf hin, dass die komplexen Berechnungen keinen Sinn ergeben:

  • Der hochfrequentierte Standort A mit zahlreichen Tramlinien hat eine ähnlich hohe Reichweite wie der unbedeutende und wenig frequentierte Standort B.
  • Zwei direkt nebeneinander stehende Werbescreens weisen stark divergierende Reichweiten aus.
  • An Standort C sind manche Screens den Verkehrsströmen zugewandt, andere sind ihnen abgewandt. Beide weisen die gleiche Reichweite aus.
  • Standort D weist plötzlich eine 50% höhere Reichweite aus als zuvor. Standort E wiederum hat plötzlich eine 30% tiefere Reichweite als zuvor.
  • Obwohl der Plakatgesellschaft gemeldet wurde, dass Standort F eine zu hohe Reichweite ausweist, wird diese weiter erhöht.

Stadt Zürich: 115 Mio. Kontakte, behauptet die Werbeindustrie

Wie absurd die ausgewiesenen Reichweiten sind, wird auch ersichtlich, wenn man nur die von den Duopolisten APG|SGA und Goldbach Neo betriebenen Werbescreens in der Stadt Zürich betrachtet. Die 552 Bildschirme sollen 115 Mio. Kontakte wöchentlich (à mind. 1 Sekunde Aufmerksamkeit) generieren. Das ist das 300-Fache der über-15-jährigen Wohnbevölkerung, obwohl Bildschirme, die nebeneinander angeordnet sind, bis zu 50% weniger gewichtet werden müssten.

Im Durchschnitt sollte gemäss der Werbeindustrie jeder Bildschirm dieser beiden Unternehmen 210 000 Kontakte generieren. Das ist dreimal mehr als der höchste Wert unserer Stichproben und siebzigmal mehr als der niedrigste Wert.

Was die Sache zusätzlich erschwert: Während die Zahlen auf der APG-Website («Contact Opportunities», Kontaktchancen) etwas höher als die von Out-of-Home-Watch gemessenen sind, entsprechen sie nur einem Sechstel der Splicky-Zahlen. Bei Goldbach Neo jedoch sind die Zahlen («Visibility Adjusted Contacts», VAC, sichtbarkeitsgewichtete Kontakte) im Goldbach-Buchungsportal sechsmal höher als bei Splicky und astronomisch viel höher als die von Out-of-Home Watch ermittelten. Siehe hier zum Begriff der Reichweite.

Es ist offensichtlich: Irgendwo ist der Wurm drin, und die Plakatgesellschaften profitieren davon.

Vier Beispiele mit absoluten Zahlen

Es ist nicht Aufgabe von Out-of-Home Watch, für die Werbeindustrie Reichweitenmessungen durchzuführen. Deshalb wurden die meisten Standorte anonymisiert. Im Folgenden sind vier Standorte im Detail aufgeführt: